Eine Kurzgeschichte:
„Was ist Kim, wie
fühlst du dich?“
Es war schwarz,
grau, weiß, ein schwarz, grau, weißes Bild von einem Novembertag.
Ich wickelte meinen Mantel
enger um meinen Körper, spürte deutlich, wie Kälte meine
Wangen berührte. Spürte deutlich, wie mein Herz hämmerte. Hämmern,
weil es fliehen wollte, zu dir. Ich sah dich durch das Fenster, so
deutlich. Meine Alice.
Du standest auf
einer großen, dunklen Brücke, direkt auf der Mitte, als wolltest
du, dass ich dich sehe.
„Kim? Antworte
doch bitte.“
Ich drehte mich um,
der Arzt hatte sich wie eine Mauer hinter mich gestellt, sein Gesicht
verriet seine Sorgen. Obwohl es mich Anstrengung kostete, riss ich
mich zusammen.
„Was haben Sie
gefragt?“
„Wie es dir geht.“
„Gut.“
„Was siehst du?“
„Sie.“
„Wer?“
„Alice.“
„Alice?“
Ich richtete meine
Konzentration wieder auf dich, auf das zarte Mädchen auf der Brücke.
Du bewegtest dich nicht, hattest mich nur angestarrt – und ich
dich. Es löste in mir Freude, Sehnsucht, Schmerz aus. Wie lange
hatte ich ohne dich leben müssen, suchte dich gefühlte
Jahrhunderte. Ich kann mich noch gut erinnern, du glichst einem Engel
mit deinen blonden, langen Haare und dem ehrlichen Lächeln, hattest
dich um mich gesorgt als ich allein war. Mit dir wurde das Waisenhaus
zu einem Zuhause, du warst mein Zuhause. Weißt du, wie sehr es
schmerzt, wenn einem das eigene Heim verlässt? Ohne ein Heim ist ein
Mensch kein Mensch. Das hattest du doch gewusst, oder? Dennoch gingst
du. Meintest beim Abschied, ich solle auf mich aufpassen. „Kim, ich
komme zurück“, sagtest du, „Ich werde es versuchen und dann
sehen wir uns wieder.“ Ich wartete, wartete Stunden, Nächte,
Jahre, wartete darauf, wieder zu leben.
„Wer ist Alice?“,
wollte der Arzt von Frau Krämer meiner Waisenhauserzieherin wissen.
„Alice war ihre
Freundin. Sie wurde vor sechs Jahren zur Adoption freigegeben“
Zur Adoption
freigegeben, was für eine verachtende Formulierung. Als ob das
alles erklären würde, als ob das die Wahrheit der Wahrheiten wäre.
Die Wahrheit ist doch eine ganz andere. Glauben sie alle wirklich,
ich sei so naiv?
„Wo steht Alice,
Kim?“, fragte der Arzt mich in einem Tonfall, der für Kleinkinder
bestimmt war.
„Auf der Brücke.
Sind Sie blind?“
Der Arzt räusperte
sich. Mit einer langsamen Bewegung zeigte ich auf den dunklen, weit
entfernten Punkt. Jedoch nicht um dem Arzt deinen Standpunkt zu
verdeutlichen, sondern vielmehr, um zu verinnerlichen, dass du immer
noch da standest.Ich überlegte, ob ich einfach aus dem Fenster
steigen sollte, rennen, durch dieses dunkle Gestrüpp, über die
lange Brücke – zu dir. Ich hatte Angst, dass du gehen würdest,
bevor ich bei dir bin. Alice, genau jetzt war unser Moment, ich
durfte es nicht vermasseln, nicht heute.
Mein Herz pochte. Du
warst so nah. Genauso nah als du mir in der zweiten Nacht im
Waisenhaus erzählt hattest, dass man von unserem Beobachtungspunkt
jede Nacht den Polarstern sehen kann. Das einzige, was man braucht,
ist das Wissen, dass er sich im Norden befindet - dort leuchtet er.
Es hatte mich getröstet, ich hatte sogar aufgehört zu weinen.
Jetzt bist du da.
Weißt du Alice? Ich hatte dich wirklich vermisst, so vermisst, als
wärst du der einzige Mensch auf der Welt. Das warst du auch für
mich.
„Warum ist Alice
wieder da?“, fragte ich Frau Krämer.
Sie schwieg.
Der Arzt legte eine
Hand auf meine Schulter. „Kim, wir müssen dich wegen einer
wichtigen Sache unterrichten, höre jetzt gut zu.“
Ich befreite mich
von den Schläuchen, die an mir befestigt waren. Ich wollte nur noch
weg aus diesem Irrenhaus. Frau Krämer und der Arzt versuchten mich,
von dem Fenster wegzuziehen, um mich wieder ins Bett zu drücken.
„Kann ich nicht
erst zu Alice?“
„Warte kurz, Kim,
nur einen Moment.“
„Ich will aber zu
Alice.“
„Ganz ruhig, Kim.“
„Ich möchte nur
kurz zu ihr.“
„Nein.“
„Doch.“
Mein Körper wand
sich widerspenstig in den Fängen von meiner Erzieherin und des
Arztes. Alice, warte du dieses Mal. Ich bin gleich bei dir, gleich
sind wir wieder zusammen.
Plötzlich wurde der
quälende Griff von Frau Krämer härter.
„Stop! Kim, hör
auf! Alice steht nicht dort! Es ist dein Gehirntumor, der dich das
sehen lässt! Alice ist tot.“
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