Translation?

Mittwoch, 23. Januar 2013

#61


Eine Kurzgeschichte:

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„Was ist Kim, wie fühlst du dich?“
Es war schwarz, grau, weiß, ein schwarz, grau, weißes Bild von einem Novembertag. Ich wickelte meinen Mantel enger um meinen Körper, spürte deutlich, wie Kälte meine Wangen berührte. Spürte deutlich, wie mein Herz hämmerte. Hämmern, weil es fliehen wollte, zu dir. Ich sah dich durch das Fenster, so deutlich. Meine Alice.
Du standest auf einer großen, dunklen Brücke, direkt auf der Mitte, als wolltest du, dass ich dich sehe.
„Kim? Antworte doch bitte.“
Ich drehte mich um, der Arzt hatte sich wie eine Mauer hinter mich gestellt, sein Gesicht verriet seine Sorgen. Obwohl es mich Anstrengung kostete, riss ich mich zusammen.
„Was haben Sie gefragt?“
„Wie es dir geht.“
„Gut.“
„Was siehst du?“
„Sie.“
„Wer?“
„Alice.“
„Alice?“
Ich richtete meine Konzentration wieder auf dich, auf das zarte Mädchen auf der Brücke. Du bewegtest dich nicht, hattest mich nur angestarrt – und ich dich. Es löste in mir Freude, Sehnsucht, Schmerz aus. Wie lange hatte ich ohne dich leben müssen, suchte dich gefühlte Jahrhunderte. Ich kann mich noch gut erinnern, du glichst einem Engel mit deinen blonden, langen Haare und dem ehrlichen Lächeln, hattest dich um mich gesorgt als ich allein war. Mit dir wurde das Waisenhaus zu einem Zuhause, du warst mein Zuhause. Weißt du, wie sehr es schmerzt, wenn einem das eigene Heim verlässt? Ohne ein Heim ist ein Mensch kein Mensch. Das hattest du doch gewusst, oder? Dennoch gingst du. Meintest beim Abschied, ich solle auf mich aufpassen. „Kim, ich komme zurück“, sagtest du, „Ich werde es versuchen und dann sehen wir uns wieder.“ Ich wartete, wartete Stunden, Nächte, Jahre, wartete darauf, wieder zu leben.
„Wer ist Alice?“, wollte der Arzt von Frau Krämer meiner Waisenhauserzieherin wissen.
„Alice war ihre Freundin. Sie wurde vor sechs Jahren zur Adoption freigegeben“
Zur Adoption freigegeben, was für eine verachtende Formulierung. Als ob das alles erklären würde, als ob das die Wahrheit der Wahrheiten wäre. Die Wahrheit ist doch eine ganz andere. Glauben sie alle wirklich, ich sei so naiv?
„Wo steht Alice, Kim?“, fragte der Arzt mich in einem Tonfall, der für Kleinkinder bestimmt war.
„Auf der Brücke. Sind Sie blind?“
Der Arzt räusperte sich. Mit einer langsamen Bewegung zeigte ich auf den dunklen, weit entfernten Punkt. Jedoch nicht um dem Arzt deinen Standpunkt zu verdeutlichen, sondern vielmehr, um zu verinnerlichen, dass du immer noch da standest.Ich überlegte, ob ich einfach aus dem Fenster steigen sollte, rennen, durch dieses dunkle Gestrüpp, über die lange Brücke – zu dir. Ich hatte Angst, dass du gehen würdest, bevor ich bei dir bin. Alice, genau jetzt war unser Moment, ich durfte es nicht vermasseln, nicht heute.
Mein Herz pochte. Du warst so nah. Genauso nah als du mir in der zweiten Nacht im Waisenhaus erzählt hattest, dass man von unserem Beobachtungspunkt jede Nacht den Polarstern sehen kann. Das einzige, was man braucht, ist das Wissen, dass er sich im Norden befindet - dort leuchtet er. Es hatte mich getröstet, ich hatte sogar aufgehört zu weinen.
Jetzt bist du da. Weißt du Alice? Ich hatte dich wirklich vermisst, so vermisst, als wärst du der einzige Mensch auf der Welt. Das warst du auch für mich.
„Warum ist Alice wieder da?“, fragte ich Frau Krämer.
Sie schwieg.
Der Arzt legte eine Hand auf meine Schulter. „Kim, wir müssen dich wegen einer wichtigen Sache unterrichten, höre jetzt gut zu.“
Ich befreite mich von den Schläuchen, die an mir befestigt waren. Ich wollte nur noch weg aus diesem Irrenhaus. Frau Krämer und der Arzt versuchten mich, von dem Fenster wegzuziehen, um mich wieder ins Bett zu drücken.
„Kann ich nicht erst zu Alice?“
„Warte kurz, Kim, nur einen Moment.“
„Ich will aber zu Alice.“
„Ganz ruhig, Kim.“
„Ich möchte nur kurz zu ihr.“
„Nein.“
„Doch.“
Mein Körper wand sich widerspenstig in den Fängen von meiner Erzieherin und des Arztes. Alice, warte du dieses Mal. Ich bin gleich bei dir, gleich sind wir wieder zusammen.

Plötzlich wurde der quälende Griff von Frau Krämer härter.
„Stop! Kim, hör auf! Alice steht nicht dort! Es ist dein Gehirntumor, der dich das sehen lässt! Alice ist tot.“


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